Interview mit Dr. Franz Segbers
„Samaritische“ oder „diakonische“ Kirche? Vorab-Veröffentlichung eines Interviews der Paulus-Blätter mit Dr. Franz Segbers, Professor für Sozialethik in Marburg, zur Rolle der Kirche bei der Bekämpfungvon Armut und Ausgrenzung
Interview mit Dr. Franz Segbers
Vorab-Veröffentlichung, Paulus-Blätter, November 2010
zur Rolle der Kirche bei der Bekämpfungvon Armut und Ausgrenzung
„Samaritische“ oder „diakonische“ Kirche?
Die Europäische Union (EU) hat das Jahr 2010 zum Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ausgerufen. Die Kreissynode Teltow-Zehlendorf,
das Parlament des
Kirchenkreises, nimmt das EU-Jahr
zum Anlass im November das Thema
„Armut in einem reichen Land“ auf ihre
Tagesordnung zu setzen.
In zahlreichen Kirchengemeinden finden
zurzeit Veranstaltungen mit regen sozialpolitischen Diskussionen statt. Dabei geht
es auch um die Frage, welche Rolle der Kirche in einer Gesellschaft zufällt, in der Armut und
Reichtum gleichermaßen zunehmen. Franz Segbers,
Professor für Sozialethik in Marburg, hat dazu
kürzlich in einem Zeitfragen-Gottesdienst
der Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde
einen bemerkenswerten Vortrag gehalten. Frank Steger sprach mit dem Theologen und
Sozialethiker.
Paulus Blätter: Herr Segbers, Sie sprechen von einer „samaritischen“ und einer „diakonischen“
Kirche. Was ist der Unterschied?
Segbers: Die samaritische
Kirche beschränkt sich auf Akte der
Barmherzigkeit. Sie organisiert Tafeln, Kleiderkammern
und andere
Projekte aktiver Mildtätigkeit. Sie
will in der Not helfen, gerät dabei aber in eine Barmherzigkeitsfalle. Sie
begleitet den sozialpolitischen
Rückschritt von der Armutsbekämpfung
zur Armenfürsorge.
Aber Barmherzigkeit ist doch
ein Kernelement des Christentums.
Ja, natürlich. Barmherzigkeit
ist für Christen von zentraler Bedeutung.
Das können wir am Beispiel des
Barmherzigen Samariters lernen. Er ist zurecht zum Ur- und
Vorbild der
helfenden und
absichtslosen Zuwendung zu den Menschen geworden,
„die unter die
Räuber gefallen“ sind. Doch es ist
nicht damit getan, dass der
unter die Räuber Gefallene wieder auf die
Beine kommt. Was ist, wenn er den
Weg von Jericho nach Jerusalem wieder
zurückgeht und abermals unter die Räuber fällt? Es kommt darauf
an, die „Strukturen der Räuberei“ auszuhebeln. Das ist eine politische
Aufgabe.
Was ist Ihre Forderung?
Kirche und
Diakonie müssen in der Not helfen und zugleich dafür
sorgen, dass die
Menschen zu ihrem Recht kommen. Eine diakonische
Kirche antwortet auf Armut, indem
sie Barmherzigkeit, Recht und
Gerechtigkeit zusammenhält. Was zu tun ist, wenn den
Armen geholfen werden soll, steht nach
Lukas im Gleichnis vom armen Lazarus bei „Mose und
den Propheten“. Das sagt Jesus in dem Gleichnis und
er legt Abraham als höchster Autorität diesen
Hinweis in den Mund.
Das müssen Sie ausführen.
Mose: Das sind die
Sozialgesetze. Propheten sind die Männer und
Frauen, die diese
Sozialgesetze so ausgelegt haben, dass
sie ein Wort Gottes für ihre Zeit sind.
Bei den Sozialgesetzen geht es darum, den
Willen Gottes in verbindliche Regeln
der Gerechtigkeit umzusetzen. Der
Arme soll nicht um Barmherzigkeit betteln und
für die Barmherzigkeit dankbar sein. Wer arm ist, der
ist nach der Bibel jemand, der um
sein Recht auf Teilhabe gebracht worden
ist. Dieser Rechtsanspruch ist es, der
den biblischen Umgang mit Armut
kennzeichnet. „Arme soll es bei dir
nicht geben“. Dies ist die Überschrift
über der Sozialordnung Israels in der
Bibel.
Aber nicht wenige zitieren Jesus mit dem
Hinweis „Arme gibt es allezeit bei euch“. Ist das
nicht ein Widerspruch?
Nur ein scheinbarer. Im Land mag es zwar Armut geben und
tatsächlich bestand zwischen dem Anspruch der
Bibel und der
sozialen Wirklichkeit Israels eine tiefe Kluft. Doch Armut soll nach Gottes
Willen nicht sein. Das Land ist
nämlich reich gesegnet und für alle
ist genug da. Niemand bräuchte in Armut und
Not leben. Deshalb werden die Reichen in die
Pflicht genommen, den Reichtum des Landes
zu teilen, damit er zum Segen aller
werden kann.
Was hieße es heute, auf Mose und
die Propheten zu hören?
Der Schlüssel für Recht und Gerechtigkeit ist heute die
Stärkung und der
Ausbau des Sozialstaats. Die
evangelische Kirche und mit ihr die Innere Mission haben im 19. Jahrhundert gelernt, dass
Wohltätigkeit Armut lindern, aber
nicht bekämpfen kann. Aus lutherischem Ethos heraus hat sie deshalb den
Staat als Sozialstaat in die Pflicht
genommen. Er und sonst niemand ist für das
Gemeinwohl zuständig und in der
Lage, für sozialen Ausgleich zu sorgen. Hinter dieser
genuin protestantischen Einsicht darf
die Kirche heute in Zeiten des Rückbaus des
Sozialstaats nicht zurückgefallen. Wenn die
Rückkehr des Staates zur Regulierung
der Finanzmärkte gefordert wird,
dann brauchen wir auch eine Rückkehr
des Sozialstaats.
Vielen Dank für das Gespräch!
Den vollständigen Vortrag können Sie herunterladen:
"Es sollte kein Armer unter euch sein", Vortrag von Prof. Dr. Franz
Segbers im Zeitfragen-Gottesdienst der Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde am 12.9.2010