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RSSPrint

Die Kirche und die Flüchtlinge: Ein Appell
Leben ist jetzt!

21.09.2015 09:54 Uhr, von Johannes Krug

Unser Autor, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf, sieht in der Ankunft der Flüchtling eine historische Herausforderung mit großen Chancen und Risiken. Ein Plädoyer für Verantwortlichkeit, Mitgefühl und Mut - und gegen die Angst.

Jetzt sind sie da. Sogar in Zehlendorf: sichtbar im Straßenbild und neben uns in der S-Bahn. Jetzt sind sie da, angekommen auch in unseren Köpfen. Das Bild von dem dreijährigen, auf der Flucht ertrunkenen Alan Kurdi ist um die Welt gegangen und hat sich in die Erinnerung gebrannt. Das Foto ist Symbol geworden für das Leid der Vielen auf der Flucht. Jetzt sind sie da, um uns und in uns. Und es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass wir – wieder einmal - vor einer historischen Herausforderung stehen, die uns große Chancen bietet - und die wir gründlich vergeigen können. Später wird man uns entweder dankbar sein oder uns fragen, warum wir versagt haben.

Die große Chance sind die Menschen, die zu uns kommen: vielfach gut ausgebildet, Arbeit gewohnt, zu arbeiten motiviert und mit einer großen Portion Dankbarkeit im Gepäck, in Deutschland einen sicheren Platz gefunden zu haben.

Die Vereinigten Staaten profitieren bis heute vom selbstinitiativen, kreativen Geist der Einwanderer, und gerade auch Berlin hat in seiner Geschichte die Chancen eines Zuzugs von außen klug genutzt. Heute nutzen wir unsere Chancen, wenn wir den Flüchtlingen schnell einen Ort zum Wohnen, einen Platz zu arbeiten und einen Zugang zu Sprache und Kultur verschaffen. Kurz: schnell Heimat bieten. Dabei kommt es darauf an, dass der Anfang gelingt. Wie in einer Ouvertüre die Handlung und alle wichtigen Themen der Oper vorweg anklingen, so machen oft die ersten Blicke und Eindrücke die Musik. Darum war und bleibt das herzliche Willkommen an den Zügen und in den Unterkünften viel mehr als eine freundliche Geste: wahrscheinlich haben diese spontanen Willkommensgrüße viel mehr erreicht, als nachträglich gewährte Integrationsmaßnahmen jemals erreichen können.


Doch die Chancen sind vertan, wenn wir die Flüchtlinge zu lange im Ungewissen lassen, ob sie in Deutschland eine Perspektive haben oder nicht, und wenn wir sie, zur Untätigkeit gezwungen, in Sammelunterkünften ihre Zeit totschlagen lassen. Und auch davon höre ich: dass Gespräche mit der Ausländerbehörde nicht selten als demütigend, ja abschreckend erlebt werden.

Wenn das die Ouvertüre ist, werden auch gut gemeinte (und teure) Integrationsmaßnahmen nachträglich nichts mehr richten können, werden sich die Flüchtlinge sprachlich und kulturell abschotten und auf Dauer Parallelgesellschaften bilden. Das kann niemand wollen. Es wäre, angesichts der weltpolitischen Lage, eine Illusion zu meinen, dass sich unser Land aus den Flüchtlingsbewegungen weitgehend heraushalten könnte. Wir können nur mit oder gegen, aber nicht ohne Flüchtlinge leben.

Leben ist jetzt. Jetzt ist es Zeit für alle menschenmöglichen humanitären, finanziellen und integrativen Anstrengungen. Dazu rät nicht nur das mitfühlende Herz, sondern auch die kalkulierende Vernunft: dumm ist, wer in der gegenwärtigen Lage die Chancen übersieht. Der Einsatz lohnt sich, nicht nur für die  Flüchtlinge, die jetzt Hilfe brauchen, sondern auch für uns.

Niemand kann etwas für die Angst vor dem Fremden. Sie ist in uns angelegt. Ich vermute, nicht weit entfernt davon wohnt unser Hang zur Bequemlichkeit. Wir sind nicht verantwortlich für unsere Gefühle. Aber wir sind sehr wohl dafür verantwortlich, ob wir uns in unseren Worten und Taten bestimmen lassen von der Angst und der Bequemlichkeit. Auch das Mitgefühl ist ein Gefühl und der Mut ist eine Alternative zur Bequemlichkeit.

Es ist schon an uns zu wählen, und für unsere Wahl tragen wir Verantwortung. Es wählt jeder nach seiner Facon, uns Christen ist jedenfalls ins Stammbuch (Bibel) geschrieben: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Das ist übrigens nicht als Status-Zuschreibung gemeint, sondern als täglicher Anspruch an uns selbst.

Tun kann jeder etwas: Nicht alle haben Zeit zu einem ehrenamtlichen Engagement, aber alle haben teil an privaten oder beruflichen  Netzwerken. Wenn in den Wohnzimmern, Stammtischen und Pausenräumen nur genügend Menschen Mitgefühl und Mut zeigen, haben dumpfe Ressentiments, die in Angst und Bequemlichkeit wurzeln, keine Chance.

Ehrenamt erfüllt und belastet zugleich
Erstaunlich Viele bieten ihr ehrenamtliches Engagement an, quer durch alle politischen Lager. Das erfüllt sie und das belastet sie zugleich: es ist ein beglückendes Erlebnis, wenn aus „dem Flüchtling“ auf einmal Josy wird, ein aufgewecktes Mädchen, die nicht ohne Lieblingspuppe ihre neue Umwelt erkundet. Ihr Blick zurück: ziemlich düster. Ihr Blick nach vorn: voller Zuversicht. Doch es ist auch emotional belastend, Anteil zu nehmen an dem Elend und Leid, das Flüchtlinge mit sich tragen in ihrem Gepäck. Auch sie, die ehrenamtlich Engagierten, brauchen auf Dauer die Anerkennung, und wo es Not tut: professionelle Unterstützung durch Beratung und Supervision.

Jetzt sind sie da: Die evangelischen Christen im Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf sagen und zeigen durch ihr Engagement: Herzlich willkommen!

Der Autor ist seit März 2012 Superintendent im Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf. Krug ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt seit 2003 in Berlin. Der Text erscheint auf dem Tagesspiegel Zehlendorf, dem Online-Portal der Zeitung aus dem Südwesten Berlins.

Letzte Änderung am: 22.09.2015